
Mit feinen Seidenfäden genäht, mit jahrhundertealter Sorgfalt erhalten: In den mittelalterlichen Handschriften aus dem ehemaligen Kloster Seckau haben sich nicht nur Worte, sondern auch Spuren handwerklicher Reparaturkunst erhalten. Als das Kloster 1782 im Zuge der josephinischen Reformen aufgelöst wurde, gelangte ein bedeutender Teil seiner Bibliothek an die Universitätsbibliothek Graz – darunter zahlreiche Manuskripte aus dem 12. und 13. Jahrhundert mit auffälligen, teils kunstvoll verzierten Nähstellen.
Diese Seidenstickereien – mal schlicht funktional, mal überraschend dekorativ – stehen im Zentrum des Projekts »Stitching the Centuries«. Zehn Designer:innen haben sich mit diesen historischen Spuren auseinandergesetzt und daraus neue Designprototypen entwickelt. Ihr Ziel: das jahrhundertealte Wissen um Reparatur und Erhaltung in einen zeitgenössischen gestalterischen Kontext zu übersetzen.
Spuren aus dem Skriptorium
Die Handschriften stammen ursprünglich aus dem Chorherren- und Chorfrauenstift Seckau, das im 12. Jahrhundert von Adalram von Waldeck-Feistritz und seiner Frau Richiza von Perg gegründet wurde. Doch nicht alle Bücher lassen sich eindeutig Seckau zuordnen – manche liturgischen und textlichen Hinweise deuten auf Importstücke hin, möglicherweise persönliche Gebetbücher von Chorfrauen aus anderen Regionen.
Was viele dieser Manuskripte verbindet, sind die sichtbaren Zeichen der Reparatur: feine Seidenfäden, die Seitenrisse flickten, Pergamentblätter verbanden oder Löcher schlossen. Trotz ihrer ästhetischen Wirkung sind diese Techniken bislang kaum wissenschaftlich untersucht. Erste Analysen deuten darauf hin, dass sie im Umfeld kirchlicher Reformbewegungen entstanden sein könnten – vielleicht sogar als Ausdruck eines gestalterischen Trends innerhalb der klösterlichen Buchpflege.
Bemerkenswert ist auch, dass die verwendeten Fäden keinerlei Bezug zum liturgischen Farbkanon zeigen. Vielmehr scheint es, als hätte man in den klösterlichen Werkstätten auf vorhandene Materialreste zurückgegriffen – und diese mit gestalterischem Feingefühl eingesetzt.

Design trifft Denkmalpflege
Zehn Designer:innen entwickelten auf Grundlage der historischen Seidenstickereien eigene Prototypen, die sowohl an das klösterliche Erbe als auch an aktuelle Fragen der Nachhaltigkeit und Wertschätzung anknüpfen.
Die entstandenen Arbeiten zeigen, wie kreativ die Vergangenheit interpretiert werden kann. Dabei stehen nicht nur die Techniken im Vordergrund, sondern auch das damit verbundene Denken: Reparieren als Haltung.
Ausgestellt im Designmonat Graz
Die Ergebnisse von »Stitching the Centuries« wurden im Rahmen des Designmonat Graz 2025 präsentiert. Die Ausstellung eröffnete neue Perspektiven auf die mittelalterliche Buchkultur und machte deutlich, wie handwerkliche Präzision, ästhetisches Gespür und kreative Interpretation sich über Jahrhunderte hinweg zu einer lebendigen Erzählung verbinden.
Die entstandenen Objekte
Andrea Jack-Voigt
Mittelalterliche Stickmuster treffen auf zeitgenössisches Upcycling: In diesen Schmuckstücken verbinden sich historische Motive mit Materialien wie alten Pergamentresten und ausrangierten Fahrradschläuchen – eine Neuinterpretation im Zeichen der Nachhaltigkeit.
Seit 2018 entwirft die Wahlsteirerin unter dem Label »Cerwenka« langlebige Mode und Accessoires. Neben edlen Stoffen und feinem Leder verarbeitet sie bevorzugt Industrie- und Handwerksreste – immer mit dem Anspruch, Gestaltung mit Bedeutung zu verbinden.

Felizia Wurzinger-Keller
Was einst Pergament veredelte, belebt heute Denim: Die Designerin überträgt mittelalterliche Stickmuster auf Jeansstoffe und verbindet sie mit der japanischen Sashiko-Technik – eine kunstvolle Fusion zweier Kulturen der Reparatur.
Die Grazer Textilkünstlerin und studierte Fremdsprachenpädagogin arbeitet seit Jahren mit Upcycling-Methoden, insbesondere mit Denim. Ihre Leidenschaft für Sashiko führte sie zum seltenen »Sashikodenim«, wo traditionelle Stickerei und Jeans-Ästhetik verschmelzen. Seit 2023 ist sie mit »@waldlaeufer.in« selbstständig tätig.

Barbara Stölzl & Claudia Werchota
Aus der organischen Formensprache mittelalterlicher Stickereien entsteht ein schwebendes Lichtobjekt – gefertigt aus wiederverwendeten Lampenschirmen und feinen Seidentüchern. Die dreidimensionale Umsetzung spielt mit Transparenz, Textur und Erinnerung.
Barbara Stölzl, ursprünglich im Fashionbereich tätig, gründete 2011 das Label »milli lux«, spezialisiert auf nachhaltige, handgefertigte Stofflampenschirme. Claudia Werchota arbeitet als Innenarchitektin in Graz. Ihr Fokus liegt auf der Verbindung von alter Substanz und neuer Struktur – ob im Raum oder in ihrer Betonobjekt-Werkstatt.

Tali Tormoche, Tomislav Bobinec & Susanna Ahvonen
Ein analoges Notizbuch trifft auf digitale Technik: Zwölf Seiten mit Faksimiles mittelalterlicher Stickmuster eröffnen via App Augmented-Reality-Erlebnisse. Stickerbögen und Notizseiten laden zum Mitgestalten ein – eine Verbindung von Buchkultur, Technik und persönlichem Zugang.
Susanna Ahvonen, Architektin mit Hintergrund in Mathematik und Kunstgeschichte, entwirft Möbel und Objekte zwischen Graz und Finnland.
Tali Tormoche gründete 2006 »ReBlock«, ein Upcycling-Label für Notizbücher, und bringt seine Leidenschaft für Papier aus der Werbe- und Medienwelt ein. Tomislav Bobinec ist Kommunikationsdesigner, Typograf und Gründer von »I Say No To Cheap Design«; er lehrt an der FH JOANNEUM und entwickelt innovative Konzepte im Editorial und Ausstellungsbereich.

Atelier Vasco Pinho
Die tragbare Lampe »LuzĂada« verbindet mittelalterliche Stickästhetik mit portugiesischer Handwerkskunst. Inspiriert vom Nationalepos »Os LusĂadas«, ist sie aus traditionellem Burel-Wollstoff gefertigt und mit symbolischen Nähten versehen – eine Hommage an Licht, Geschichte und Gestaltung.
GegrĂĽndet 2016 in CovilhĂŁ, Portugal, vereint das Atelier von Vasco Pinho und Daniel Souza Architektur, Interior Design und nachhaltige Konzeptentwicklung. Im Fokus: Umweltbewusstsein, kulturelles Erbe und die Verbindung von Raum, Material und Narration.
